Donnerstag, 23. August 2012

Mit der erfolgten indirekten Grundgesetzänderung erhält die Bundeswehr die nachträgliche Legitimation für ihre bereits seit längerem laufenden Vorbereitungen auf inländische Kriegsoperationen


Anstelle einer Verfassungsänderung


Ein Verfassungsrichter übt scharfe Kritik am Urteil des obersten
deutschen Justizorgans zum Einsatz der Bundeswehr im Inland. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dem Militär bei Naturkatastrophen und schweren Unglücksfällen den Gebrauch von Kriegswaffen auch innerhalb der Bundesrepublik zu gestatten, sei "nicht hinnehmbar", erklärt der Jurist Reinhard Gaier. Da nun nicht mehr ausgeschlossen werden könne, dass sich die Streitkräfte zum "innenpolitischen Machtinstrument" entwickelten, habe das Gericht gegen ein "fundamentales Prinzip" des deutschen Staatswesens verstoßen. In letzter Konsequenz zeitige das Urteil damit die "Wirkungen einer Verfassungsänderung". Nach Auffassung des Juristen stellt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das Grundgesetz als "Absage an den deutschen Militarismus, der Ursache für die unvorstellbaren Schrecken und das millionenfache Sterben in zwei Weltkriegen war", grundsätzlich in Frage.

Fundamentale Grundsätze aufgegeben
Am vergangenen Freitag hat das Bundesverfassungsgericht seine endgültige Entscheidung über Zulässigkeit und Grenzen von Bundeswehreinsätzen im Inland bekanntgegeben. Ausgangspunkt war die im sogenannten Luftsicherheitsgesetz enthaltene Befugnis des Militärs, mit Reisenden besetzte Passagierflugzeuge abzuschießen, wenn diese analog zu den Ereignissen am 11. September 2001 als Angriffsmittel genutzt werden. Die entsprechende Passage des Gesetzes wurde von den Richtern zwar annulliert; mit dem nun ergangenen Urteil erhält die Bundeswehr jedoch die Erlaubnis zum Gebrauch von Kriegswaffen bei Naturkatastrophen und "besonders schweren Unglücksfällen". Lediglich ein Verfassungsrichter hat erklärt, diesen Beschluss nicht mitzutragen: Nach Auffassung von Reinhard Gaier werden hiermit "fundamentale Grundsätze aufgegeben".[1]

Absage an den deutschen Militarismus
Dem Juristen zufolge hat das höchste deutsche Gericht mit seiner Entscheidung gegen das Rechtsprinzip verstoßen, "Streitkräfte niemals als innenpolitisches Machtinstrument" einzusetzen. Bevor er dies weiter ausführt, erinnert er seine Richterkollegen allerdings zunächst daran, dass in der deutschen Verfassung ursprünglich gar kein Militär vorgesehen war: "Das Grundgesetz ist auch eine Absage an den deutschen Militarismus, der Ursache für die unvorstellbaren Schrecken und das millionenfache Sterben in zwei Weltkriegen war. 1949 ist die Bundesrepublik Deutschland als Staat ohne Armee entstanden; schon die Einfügung der Wehrverfassung in das Grundgesetz im Jahr 1956 wird zu Recht 'eine Wende in der Entwicklung der Bundesrepublik' genannt."

Strikt zu trennen
Als Teil der verfassungsrechtlich "gebotenen Konsequenzen" aus den spezifisch deutschen "historischen Erfahrungen" bezeichnet Gaier im Weiteren die "Trennung von Militär und Polizei". Letztere sei allein und ausschließlich für die "Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit" zuständig, erklärt der Jurist: "Ihre Funktion ist die der Gefahrenabwehr und nur über hierfür geeignete und erforderliche Waffen darf die Polizei verfügen; hingegen sind Kampfeinsätze der Streitkräfte auf die Vernichtung des Gegners gerichtet, was spezifisch militärische Bewaffnung notwendig macht. Beide Aufgaben sind strikt zu trennen." Wer dagegen verstoße, verkenne den "genetischen Code dieses Landes", schreibt Gaier. Zwar habe der Gesetzgeber mittlerweile die "Voraussetzungen für die Einbindung der Streitkräfte in den zivilen Katastrophenschutz geschaffen", damit allerdings "nur polizeiliche Maßnahmen, nicht aber militärische Kampfmaßeinsätze ermöglicht".

Viel Spielraum
Auf besonderes Missfallen des Verfassungsrichters stößt die Aussage des Gerichts, Inlandseinsätze der Bundeswehr mit militärischer Bewaffnung zuzulassen, um einem "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze" eintretenden Ereignis "katastrophischen Ausmaßes" entgegenzuwirken, das auch "von Dritten absichtlich herbeigeführt" werden könne. Hiermit habe das Bundesverfassungsgericht "die Rechtsanwendung zwar um neue Begrifflichkeiten bereichert, nicht aber um die nötige Klarheit und Berechenbarkeit", schreibt Gaier in seinem Minderheitenvotum: "Es handelt sich um gänzlich unbestimmte, gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der täglichen Anwendungspraxis viel Spielraum für subjektive Einschätzungen, persönliche Bewertungspräferenzen und unsichere, wenn nicht gar voreilige Prognosen lassen." Insbesondere bei Inlandseinsätzen militärisch bewaffneter Streitkräfte sei ein solches Vorgehen jedoch schlicht "nicht hinnehmbar".

Im Schatten der Waffen
Aufgrund der vom Bundesverfassungsgericht gewählten Formulierungen sieht Gaier die konkrete Gefahr, dass "bewaffnete Streitkräfte im Inneren (...) dazu eingesetzt werden, um allein schon durch ihre Präsenz die Bevölkerung etwa bei Demonstrationen einzuschüchtern". Rhetorisch fragt er: "Wie ist beispielsweise zu verhindern, dass im Zusammenhang mit regierungskritischen Großdemonstrationen - wie etwa im Juni 2007 aus Anlass des 'G8-Gipfels' in Heiligendamm - schon wegen befürchteter Aggressivität einzelner teilnehmender Gruppen 'mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze' eintretende massive Gewalttätigkeiten mit 'katastrophalen Schadensfolgen' angenommen werden und deswegen bewaffnete Einheiten der Bundeswehr aufziehen?" Vor Augen hat Gaier dabei offenbar aus Militärdiktaturen bekannte Bilder: "Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen."
Kompetenzen überschritten
In letzter Konsequenz, urteilt der Verfassungsrichter, zeitige die Entscheidung über den Kriegswaffeneinsatz im Inland "die Wirkungen einer Verfassungsänderung" und ermögliche genau das, "was für die Bundesregierung vor drei Jahren gegen einen der Koalitionspartner - und auch gegen die Stimmverhältnisse im Bundesrat - nicht durchsetzbar war". Damit aber habe das oberste deutsche Justizorgan klar seine Kompetenzen überschritten, vermerkt Gaier: In Gesetzgebungsfragen sei es "nicht Aufgabe und nicht Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, korrigierend einzuschreiten".

Innere Unruhen
Mit der laut Gaier erfolgten indirekten Grundgesetzänderung erhält die Bundeswehr die nachträgliche Legitimation für ihre bereits seit längerem laufenden Vorbereitungen auf inländische Kriegsoperationen. Erst kürzlich haben die deutschen Streitkräfte sogenannte Sicherungs- und Unterstützungskräfte für den "Objektschutz" und die Niederschlagung "innerer Unruhen" aufgestellt. Gleichzeitig wird in entsprechenden Manövern die bewaffnete Auseinandersetzung mit feindlichen Kombattanten an der "Heimatfront" trainiert (german-foreign-policy.com berichtete [2]).


[1] Quelle hier und im Folgenden: Bundesverfassungsgericht, 2 PBvU 1/11, 03.07.2012



Danke German-Foreign-Policy.com
Quelle: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58403
Erscheinungsdatum des Originalartikels: 20/08/2012
Artikel in Tlaxcala veröffentlicht: http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=8012

Keine Kommentare: